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Dr. Martin Bleichner

Neurophysiologie des Alltags (Emmy Noether Gruppe)

+49-441-798-2940

Dr. Kai Siedenburg

Music Perception and Processing

+49-441-798-3579

  • Bildmontage: Kai Siedenburg und Martin Bleichner sitzen in verschiedenen Positionen auf verschiedenen Plätzen eines Kinosaals.

    Kai Siedenburg (mit dunklem Pullover) will Möglichkeiten schaffen, damit auch Menschen mit Hörgerät wieder Konzerte genießen können. Martin Bleichner interessiert sich für störende Alltagsgeräusche – zum Beispiel das Rascheln des Sitznachbarn im Kino. Foto: Uni Oldenburg

  • Kai Siedenburg im Hörlabor mit einer schaufensterartigen Puppe, die Hörgeräte trägt.

    Mit Hörgeräten Musik zu hören, ist oftmals kein Genuss, da die Geräte dazu optimiert sind, Gesprächen zu folgen. Kai Siedenburg möchte das ändern. Foto: Uni Oldenburg

  • Eine Person sitzt mit Kopfhörern vor einem Bildschirm, auf dem verschiedene Tonspuren zu erkennen sind.

    Ein Musikstück ist aus vielen Komponenten zusammengesetzt. Die Fähigkeit, sie alle wahrzunehmen, schwindet mit dem Hörvermögen. Foto: Uni Oldenburg

  • Eine Hand auf der Klaviatur eines Keyboards.

    Keyboard, Gitarre, Schlagzeug, Gesang: Siedenburg und sein Team erforschen unter anderem, welche Stimmen eines Musikstücks beim Hören besonders in Erinnerung bleiben. Foto: Uni Oldenburg

  • Martin Bleichner befestigt am Ohr einer anderen Person eine C-förmige Folie mit mehreren Elektroden.

    Kein Hörgerät, sondern ein kleines EEG: Martin Bleichner untersucht die Gehirnaktivitäten, die von Geräuschen ausgelöst werden, mit wenigen Elektroden, die um das Ohr geklebt werden. Foto: Uni Oldenburg

  • Auf einem Smartphone-Display sind wellenförmige EEG-Messdaten zu sehen.

    EEG to go: Mehr als die ums Ohr geklebten Elektroden, einen kleinen Verstärker und ein Smartphone braucht Bleichner nicht, um seinen Testpersonen auch außerhalb des Labors in den Kopf gucken zu können. Foto: Uni Oldenburg

  • Zwei Personen im alltäglichen Gespräch, bei dem eine Person ein cEEGrid und das damit verbundene Equipment trägt.

    Ein Kragen dient dazu, Testpersonen im Alltag Geräusche vorzuspielen. Mit dem cEEGrid können die Forschenden parallel messen, zu welchen Reaktionen diese akustischen Stimulationen führen und ob sie im Alltag überhaupt wahrgenommen werden. Foto: Uni Oldenburg

  • Martin Bleichner und Kai Siedenburg

    Martin Bleichner (l.) und Kai Siedenburg beschäftigen sich beide mit dem Hören - aber auf völlig unterschiedliche Weise. Foto: Uni Oldenburg

Vom Hören und Stören

Kai Siedenburg will herausfinden, wie Musik für Menschen mit Hörproblemen wieder zum Genuss wird. Martin Bleichner interessiert sich hingegen eher für störende Geräusche im Alltag. Trotzdem wollen beide Forscher zusammenarbeiten.

Kai Siedenburg will herausfinden, wie Musik für Menschen mit Hörproblemen wieder zum Genuss wird. Martin Bleichner interessiert sich hingegen eher für störende Geräusche im Alltag. Trotzdem wollen beide Forscher zusammenarbeiten.

Wenn Dr. Martin Bleichner einen Vortrag hält, hat er häufig einen Kugelschreiber in der Hand. Er benutzt ihn nicht, um damit auf etwas zu deuten oder etwas aufzuschreiben. Stattdessen drückt er – während er spricht – mit einem leisen „Klick“ immer wieder auf die Mine. „Wenn ich dann nach einigen Minuten den Kugelschreiber weglege und dem Publikum erkläre, dass ich jetzt damit aufhöre, ist die Reaktion fast immer gleich: Die eine Hälfte ist sichtbar erleichtert, die andere Hälfte hatte das Klicken gar nicht bemerkt oder bewusst ausgeblendet“, erzählt der Neuropsychologe.

Er leitet am Department für Psychologie seit 2019 die vom Emmy-Noether-Programm geförderte Arbeitsgruppe „Neurophysiologie des Alltags“, die sich mit der Frage beschäftigt, wie wir im Alltag Geräusche wahrnehmen – insbesondere störende. „Dass Menschen die gleichen Sinneseindrücke völlig unterschiedlich wahrnehmen können, ist für viele kaum vorstellbar“, sagt Bleichner. Ein Beispiel ist das Phänomen, dass einige Menschen Sinneseindrücke gekoppelt wahrnehmen. Bei diesem als Synästhesie bezeichneten Phänomen nehmen Personen beispielsweise Berührungen zugleich als Klang oder Geschmack wahr.  Bleichner konzentriert sich in seiner Forschung auf Hörreize und will sichtbar machen, was diese im Gehirn verschiedener Menschen auslösen.

Musik klingt mit Höreinschränkungen völlig anders

Stände der Kollege Bleichner vor einem älteren Publikum, würde die Zahl derer, die sich gestört fühlen, sinken, weiß Dr. Kai Siedenburg. Einige von ihnen könnten das Klicken gar nicht mehr hören – selbst wenn sie wollten. Schließlich hat jede zweite Person über 70 Jahren Probleme mit den Ohren. Was aber bei unerwünschten Geräuschen noch ganz praktisch sein kann, ist bei schönen Klängen ein Ärgernis.

Konzerte, Musikaufnahmen und Radio – all das klingt mit Schwerhörigkeit anders. Wie genau, darauf gibt es keine einheitliche Antwort. „Wie sich Musik mit Höreinschränkungen anhört, ist sehr unterschiedlich, weil auch die Art des Hörverlusts ganz unterschiedlich sein kann“, erklärt Siedenburg. Seit 2016 forscht und lehrt er an der Universität Oldenburg, seit 2019 fördert die VolkswagenStiftung seine Forschung zur Musikwahrnehmung und -verarbeitung mit einem Freigeist-Fellowship. Sein „Music Perception & Processing Lab“ gehört zum Department für Medizinische Physik und Akustik.

Hörforscher mit vermeintlich grundverschiedenen Interessen

Beide Wissenschaftler sind Hörforscher. Der Kern ihres Interesses ist jedoch auf den ersten Blick grundverschieden. Während sich Bleichner insbesondere mit störenden Geräuschen und individueller Lärmwahrnehmung beschäftigt, sucht Siedenburg die schönen Klänge – und Wege, sie auch für Menschen mit Hörproblemen wieder zum Genuss zu machen. „Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden“, wusste schon Wilhelm Busch. Unterscheidet sich die Suche nach dem als Lärm empfundenen Geräusch also vielleicht doch nicht so sehr von der Suche nach dem idealen Klang?

„Betroffene berichten, dass Musik für sie verwaschen klingt, sie einzelnen Instrumenten nicht mehr gut folgen können und die Klangqualität insgesamt unangenehm ist“, berichtet Siedenburg. Handelsübliche Hörgeräte helfen selten weiter, schon allein, weil sie eher darauf optimiert sind, Gesprächen besser folgen zu können.

„Hörgeräte konzentrieren sich auf den Lautstärkebereich, in dem Sprache stattfindet“, erklärt Siedenburg. Musik hingegen kann – gerade im Konzert – mal laut und mal leise sein, findet also auch außerhalb dieses Bereichs statt. Das ist nur eins von vielen Problemen, die Hörgeräte bisher noch nicht zufriedenstellend lösen können. Viele für das Sprachverstehen gut geeignete Funktionen, die die kleinen Sinneshelfer heutzutage mitbringen, machen das Musikhören mit ihnen sogar schwieriger.

Musik so übertragen, dass sie wieder Genuss bereitet

Das möchte Siedenburg ändern. Er forscht dazu im Bereich der Psychoakustik. Diese Disziplin beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem physikalischen Schallreiz und der dadurch hervorgerufenen Hörwahrnehmung. Siedenburg will diese Zusammenhänge besser verstehen und Wege finden, Musik so zu übertragen, dass sie – technisch den individuellen Bedürfnissen angepasst –
auch einem schwerhörigen Menschen mit seinen ganz individuellen Hörproblemen wieder Genuss bereitet.

Die Kernfrage lautet daher: Wie muss ein musikalisches Signal – egal, ob live dargeboten oder aus der Konserve – abgemischt sein, damit auch Musikfans mit Hörgerät wieder alles hören können, was die Komposition zu bieten hat?

Um diese Frage zu beantworten, will Siedenburg mit seinem Team, zu dem auch drei Doktoranden gehören, unter anderem herausfinden, auf was es beim Musikhören ankommt und welche Faktoren sich verändern, wenn Menschen mit Höreinschränkungen Musik wahrnehmen.

Experimente können zum Beispiel so aussehen: Jüngere, normalhörende und ältere Menschen mit leichtem Hörverlust bekommen eine kurze Musiksequenz vorgespielt, in der mehrere Instrumente gleichzeitig erklingen. Anschließend hören die Versuchspersonen zwei kurze Tonfolgen und sollen diejenige erkennen, die bereits Teil der vorherigen Musik-Mixtur gewesen ist.

Hörfaufgaben fallen Musikbegeisterten leichter

Siedenburg fand heraus, dass sich die gesuchte Spur für ältere Teilnehmende in der Lautstärke deutlicher von den anderen Instrumenten abheben muss als bei jüngeren Versuchspersonen. Nur so können sie diese überhaupt wahrnehmen und wiedererkennen. Eine spannende weitere Erkenntnis: Wie gut die Personen im Experiment abschneiden, hängt nicht nur von ihrem Hörvermögen, sondern auch von ihrer Musikerfahrung ab. Wer sich in seinem Leben intensiv mit Musik auseinandergesetzt hat, etwa durch eigenes Musizieren, dem fällt die Höraufgabe leichter als anderen aus der gleichen Altersgruppe.

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Tonspuren in einem Musikstück so wichtig sind, dass eine Lautstärkeanpassung für Menschen mit Höreinschränkungen wichtig sein könnte, haben Siedenburg und sein Doktorand Michael Bürgel untersucht, welches Interesse die verschiedenen Instrumente in Pop-Songs bei den Zuhörenden wecken. Dabei fanden sie heraus, dass die Bass-Spur eher schwer in Erinnerung bleibt, während sich die Teilnehmenden ihres Musikexperiments so gut wie immer die Gesangsstimme einprägten.

Überrascht waren die Forschenden besonders davon, dass es – anders als bei allen anderen Instrumenten im Versuch – nahezu egal war, ob die Probandinnen und Probanden schon vor dem Abspielen des Stücks wussten, dass sie auf den Gesang achten sollten, oder erst anschließend gefragt wurden, ob sie die Stimme wahrgenommen hatten: An den Gesang erinnerten sie sich fast immer richtig. Diese Ergebnisse zeigen, dass Musikhörerinnen und -hörer der menschlichen Stimme in der Popmusik die mit Abstand höchste Aufmerksamkeit schenken.

Menschliche Stimme in der Musik ist prägnant

Grund dafür könnte laut Siedenburg zum einen eine gewisse Prägung sein. Gerade das untersuchte Genre stellt Gesang häufig in den Mittelpunkt. Das könnte dazu führen, dass Zuhörende gelernt haben, sich auf ihn besonders zu konzentrieren. Zum anderen könnte die hohe Aufmerksamkeit an der Unvollkommenheit der menschlichen Stimme liegen. „Egal wie gut und gerade jemand singt: Gesang ist nie perfekt“, sagt Siedenburg.

Werden aus kleinen Ungenauigkeiten größere Patzer – etwa bei der Geigenprobe des Nachbarkinds, das bei seinen ersten musikalischen Gehversuchen dem Instrument die schrillsten Klänge entlockt – weckt das das Interesse des Neuropsychologen Bleichner. Wann der Punkt erreicht ist, ab dem jemand ein Geräusch als störend empfindet, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Und manchmal beurteilt sogar ein und dieselbe Person das gleiche Geräusch völlig unterschiedlich. „Ob mich der Lärm eines Motorrads stört, hängt davon ab, ob ich selbst drauf sitze“, spitzt Bleichner zu.

Was nehmen Menschen wahr, wenn man ihnen nicht vorher sagt, worauf sie achten sollen?

Er schaut den Menschen in den Kopf und untersucht mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG), was alltägliche Geräusche im Gehirn auslösen. „Vieles, was wir über die Funktionsweise des Gehirns wissen, haben wir gelernt, weil wir Versuchspersonen ein oder zwei Stunden im Labor untersucht haben“, sagt er. Möglichst still sollen sie dabei sitzen, damit Forschende die Gehirnströme aufzeichnen können, ohne dass diese von Bewegungen gestört werden. Äußere Einflüsse werden so weit wie möglich ausgeschaltet.

„So kann man zwar gut das Gehirn untersuchen, aber mit der Lebensrealität hat das nicht viel zu tun“, sagt der Forscher. Deshalb wählt er einen anderen Weg und misst die Gehirnströme seiner Probandinnen und Probanden im Alltag, während sie arbeiten, essen, sich unterhalten oder spazieren gehen. Dabei unterstützen ihn eine Postdoktorandin und fünf Forschende auf dem Weg zur Promotion.

Gemeinsam mit dem Neuropsychologen Prof. Dr. Stefan Debener, der wie Bleichner am Department für Psychologie forscht, hat er in den vergangenen Jahren dafür eine eigene Methodik entwickelt und immer weiter verbessert. Das von ihnen entwickelte „cEEGrid“, eine c-förmige Folie, die sich mit etwas Gel um die Ohrmuschel herum anbringen lässt, ist im Gegensatz zu herkömmlichen und klobigen EEG-Kappen fast unsichtbar. Zehn winzige Elektroden auf diesem hauchdünnen Stück Plastik können Gehirnströme messen. Über einen Stecker werden die Daten an einen kleinen Verstärker übertragen, der sie wiederum zur Aufzeichnung an ein Smartphone schickt. „So könnte man sogar zur Familienfeier gehen, ohne irritierte Blicke zu erhalten“, sagt Bleichner.

Bei seinen Untersuchungen ist der Forscher auf der Suche nach ganz bestimmten Wellenformen im EEG. Diese sogenannten „ereigniskorrelierten Potenziale“ (ERP) werden durch vorherige Sinnesreize ausgelöst. Der gleiche Reiz kann dabei unterschiedliche ERP auslösen, je nachdem, ob zum Beispiel Personen in einem Testszenario auf einen bestimmten Ton achten oder ihn ganz bewusst ignorieren sollen. Was im Gehirn passiert, messen Neurowissenschaftler normalerweise mit bis zu 96 Elektroden, die an einer Kopfbedeckung, ähnlich einer Badekappe befestigt sind.

Ob Messungen, die sich allein auf die Elektroden am Ohr beschränken, mit den Ergebnissen eines konventionellen EEGs mithalten können, hat Bleichners Doktorand Arnd Meiser mit Experimenten untersucht. Die fanden zwar noch im Labor statt, liefern aber wichtige Erkenntnisse für künftige Studien im echten Leben.

Verzicht auf Messpunkte soll EEG-Messungen im Alltag praktikabler machen

20 Probandinnen und Probanden absolvierten dafür verschiedene Hörübungen. Dabei trugen sie eine herkömmliche EEG-Kappe mit 96 Messpunkten, sodass die Forschenden die von diesen Aufgaben ausgelösten typischen Potenziale messen konnten. Anschließend stellten sie diese Messergebnisse denen gegenüber, die sie lediglich mit den Elektroden gemessen hatten, die sich direkt an den Ohren befanden.

Dabei stellte sich heraus: Im Durchschnitt registrierten die Ohr-Elektroden die hörspezifischen Gehirnaktivitäten mit ähnlicher Intensität wie ein klassisches EEG. Allerdings – das haben Meiser und Bleichner für ihre künftige Forschung gelernt – gibt es keine Platzierung der Elektroden, die für alle Untersuchungen gleichermaßen geeignet ist. Stattdessen ist immer eine individuelle Anpassung an die jeweilige Testperson notwendig, die auch davon abhängt, welche ERPs die Forschenden beobachten wollen.

Was löst Lärm bei einzelnen Personen aus?

Individualität ist ohnehin die Prämisse für Bleichners Forschung. Ihn interessiert nicht, was Lärm mit Menschen allgemein macht. „Der Zusammenhang zwischen chronischer Geräuschbelastung und kardiovaskulären und anderen gesundheitlichen Folgen ist weitgehend bekannt“, sagt er. Der Neuropsychologe will vielmehr wissen, was der Lärm in einem einzelnen Menschen auslöst. Wie sehen die Gehirnströme von Menschen aus, die sich von einem Alltagsgeräusch gestört fühlen? Und wie unterscheiden sie sich von den Gehirnströmen der Menschen, die zum Beispiel Bleichners Kugelschreiberklicken ausblenden können?

Um besser im Alltag von Menschen forschen zu können, ist Bleichners mittelfristiges Ziel, die Gehirnaktivitäten von Testpersonen dauerhaft im Alltag aufzuzeichnen, vergleichbar mit einem Langzeit-EKG. Die Forschenden haben dafür eine spezielle App entwickelt, die Veränderungen in der Geräuschkulisse registriert, ohne dabei die Geräusche selbst oder gar Gespräche aufzuzeichnen.

„Was passiert im Gehirn von Testpersonen, wenn man ihnen nicht vorher sagt, auf was sie achten oder nicht achten sollen?“, fragt sich Bleichner. Die Möglichkeit, Gehirnströme im Alltag und über lange Zeit messen zu können, eröffnet seiner Erwartung nach die Chance, Phänomene zu beobachten, die zurzeit noch niemand kennt. „Ich bin mir sicher, dass uns diese Technologie weiterbringt, denn das, was wir damit erforschen können, haben wir uns bislang noch gar nicht richtig angeschaut“, sagt Bleichner über das Ohr-EEG.

Siedenburg füllt Forschungslücke

Auch die Kombination „Musikwahrnehmung“ und „Schwerhörigkeit“ hatte bis vor Kurzem in der Forschung eher einen Blackbox-Charakter. Musikwissenschaftler Siedenburg hat in ihr inzwischen das Licht angeknipst. „Als ich als Postdoc nach Oldenburg gekommen bin, habe ich mich gefragt, warum das Thema bisher niemand bearbeitet“, erinnert sich Siedenburg.

Er selbst hatte zuvor im kanadischen Montreal zu Klangfarben promoviert – ein Thema, das auch in seiner aktuellen Forschung eine Rolle spielt. Um Musikübertragung für die Bedürfnisse von Menschen mit Hörproblemen modifizieren zu können, muss er unter anderem herausfinden, was jeden Ton in einem Musikstück so unverwechselbar macht.

Dabei spielt die Klangfarbe eine erhebliche Rolle. Sie sorgt dafür, dass wir zum Beispiel eine Geige von einem Klavier unterscheiden können, selbst wenn beide den gleichen Ton in gleicher Lautstärke spielen. „Wenn ein Musikstück ein Eintopf wäre, dann wäre die Klangfarbe der Geschmack der einzelnen Komponenten. Manchmal, wie bei einem saftigen Gulasch, das lange geschmort wurde, macht auch ein Musikstück, das auf Verschmelzung setzt, es schwer, die einzelnen Elemente auseinanderzuhalten. Bei anderen sind die unterschiedlichen Klangfarben ganz deutlich zu unterscheiden, genauso wie etwa bei einer Gemüsesuppe die einzelnen Zutaten ganz unterschiedlich schmecken“, erklärt Siedenburg.

Der Wunsch nach altbekanntem Musikgenuss ist bei Menschen mit altersbedingten Hörproblemen groß

Unter anderem die Klangfarbe muss künstlich modifiziert werden, damit auch Hörgeschädigte sie wieder wahrnehmen können. Dazu lassen Siedenburg und sein Team auch die Betroffenen selbst an die Regler. In einem laufenden Versuch sollen sie an einem stark vereinfachten Mischpult die Einstellungen vornehmen, mit denen Musik für sie am besten klingt. So wollen die Forschenden herausfinden, welche Präferenzen Menschen mit Höreinschränkungen beim Musikhören – allen Unterschieden zum Trotz – vielleicht doch gemeinsam haben.

Eine Gemeinsamkeit, die Menschen mit Höreinschränkungen teilen, ist der dringende Wunsch nach einer Verbesserung. Dieser begegnet Siedenburg auch im Alltag. Immer wieder melden sich Betroffene bei ihm, die von seiner Arbeit gelesen haben, dann zum Hörer greifen und direkt beim Wissenschaftler nachfragen, wie weit die Forschung inzwischen ist.

Betroffene warten auf Lösungen

Bis die Anrufenden von den Ergebnissen der Oldenburger Forschung in einem Konzert profitieren und die Musik wieder fast wie früher genießen können, wird noch etwas Zeit vergehen. Aber sie dürfen zumindest schon einmal davon träumen, wie das Musikerlebnis 2.0 für sie eines Tages funktionieren könnte: Ihr Hörgerät ist mit dem Smartphone verbunden, auf dem auch alle relevanten Signale des Stücks eintreffen, das gerade auf der Bühne gespielt wird – etwa über speziell dafür installierte Bühnenmikrofone. Weil die App die ganz individuellen Höreinschränkungen ihres Nutzers kennt, kann sie die eingehende Musik so abmischen, dass sie über das Hörgerät ausgespielt klingt wie früher – oder sogar etwas besser.

Um diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen, wollen die beiden Hörforscher Siedenburg und Bleichner demnächst zusammenarbeiten. Denn auch wenn sich der eine vornehmlich für Lärm und der andere für Musik interessiert, ergänzen sich die Expertisen an einer Stelle ideal. „Im Projekt mit Martin Bleichner möchten wir anhand von EEG-Signalen entschlüsseln, ob zum Beispiel jemand gerade dem Bass oder der Stimme folgt“, sagt Siedenburg. Und deshalb wird sich Bleichner ausnahmsweise einmal auf die Suche nach schönen, musikalischen Klängen machen – damit irgendwann auch diejenigen sie wieder wahrnehmen können, für die Musik im schlimmsten Fall gegenwärtig noch Lärm ist.