Ein Roboter, der medizinischem Fachpersonal dabei hilft, zu lernen, wie sie frühzeitig ein Delir bei Patientinnen und Patienten erkennen können – diese Idee aus Oldenburg hat dem Forschungsteam um Mediziner Dr. Ulf Günther den mit 10.000 Euro dotierten Forschungsförderpreis Patientensicherheit eingebracht. Der Begriff Delir beschreibt eine Trübung des Bewusstseins, die sich in Verwirrtheit und Wahnvorstellungen äußert und im schlimmsten Fall sogar lebensgefährlich sein kann. Der Preis wird von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeinsam mit dem Unternehmen Philips vergeben.
Günther, der die Operative Intensivmedizin in der Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Klinikum Oldenburg leitet und als Privatdozent an der Universität Oldenburg forscht und lehrt, beschäftigt sich schon seit 15 Jahren mit dem Delir. „Auf der Intensivstation leiden rund 30 Prozent der Patientinnen und Patienten phasenweise unter einem Verwirrtheitszustand“, sagt der Intensivmediziner. Dass es sich dabei um eine ernstzunehmende und im schlimmsten Fall sogar lebensgefährliche Komplikation handelt, ist erst seit wenigen Jahren mit speziellen Tests diagnostizierbar. Sie helfen dem medizinischen Fachpersonal heute, ein Delir zu erkennen und die Behandlung sowie den Umgang mit erkrankten Personen anzupassen.
Günther hat die sogenannte Confusion Assessment Method für Intensivstationen (CAM-ICU) schon vor mehr als zehn Jahren ins Deutsche übersetzt und dargelegt, dass ein Drittel der Delir-Fälle ohne systematische Überprüfung unentdeckt bleibt. Die Schulung medizinischen Personals ist allerdings sehr aufwändig, da das Krankheitsbild sehr vielfältig ist. Bisher kommen bei Schulungen Simulationspersonen zum Einsatz, also speziell ausgebildete Schauspielerinnen und Schauspieler, die die verschiedenen Formen des Delirs darstellen können – und von denen es in Deutschland nur wenige gibt.
In Zusammenarbeit mit der Abteilung Medizintechnik und Assistenzsysteme (Leitung Prof. Dr. Andreas Hein) des Departments Versorgungsforschung an der Fakultät VI Medizin und Gesundheitswissenschaften hat Günther in den vergangenen Monaten deshalb seine Idee einer androiden Roboter-Patientin umgesetzt. Inzwischen gibt es einen Prototyp. Nach Günthers Vorgaben hat Jan Hendrik Röhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gruppe „Robotische Assistenzsysteme“ von Dr. Sandra Hellmers, eine 1,60 Meter große Pflegepuppe mit zusätzlichen Funktionen ausgestattet. Mit ihr lassen sich nun verschiedene Elemente des CAM-ICU-Tests trainieren. So kann mit der Roboterpatientin etwa der sogenannte „Ananasbaum-Test“ erlernt werden. Die behandelnde Person hält dabei die Hand der verwirrten Person beziehungsweise der Roboter-Patientin und buchstabiert das Wort Ananas. Bei jedem „A“ soll die Hand der behandelnden Person gedrückt werden. Misslingt die Aufgabe, kann das eines der Indizien des CAM-ICU-Tests für ein Delir sein.
Wie lange so ein Händedruck dauert, haben sich die Forschenden – wie viele andere Details – zuvor bei einer auf Delir spezialisierten Simulationspatientin abgeschaut. Wie sie kann der Roboter jetzt zum Beispiel träge werden und einschlafen oder unruhig durch den Raum blicken. Kommunikation findet – wie auch bei beatmeten Personen auf der Intensivstation – nicht über Sprache, sondern über Blinzeln, Nicken und Kopfschütteln statt. Besonders auf Letzteres sind die Forschenden stolz: Sie haben Sensordaten eines echten Menschen auf den Roboter übertragen, so dass das Kopfschütten des Roboters jetzt verblüffend menschlich wirkt.
Günther und sein Team konnten bereits mit einer Studie zeigen, dass Probandinnen und Probanden von der Roboter-Patientin genauso gut gelernt haben, ein Delir zu erkennen, wie von der Simulationspatientin. Das Preisgeld wollen die Forschenden nun in die Weiterentwicklung der Roboter-Patientin investieren. Der große Wunsch: dass sie voll automatisiert funktioniert und das Hören lernt, das im Moment noch im Raum aufgestellte Mikrofone übernehmen. „Aber das sollte am Hörforschungsstandort Oldenburg ja eigentlich kein großes Problem sein“, ist Günther zuversichtlich.
Bei der DIVI hat das Vorhaben hohe Resonanz gefunden. „Das Projekt trifft mit der Thematik den Kern der Aufgabenstellung und überzeugte zudem mit Originalität, sehr hoher Qualität sowie einer breiten Interprofessionalität und Interdisziplinarität der Beteiligten“, begründete Prof. Christian Waydhas, Koordinator der Jury und DIVI-Präsidiumsmitglied, die Preisvergabe an die Oldenburger.