Bei vielen Krebsarten sinkt die Zahl der Neuerkrankungen – von dieser Entwicklung profitieren manche Regionen laut einer neuen Studie aber deutlich stärker als andere. Gesundheitsökonom Lars Schwettmann erklärt die Zusammenhänge.
Sie haben an einer Studie mitgewirkt und untersucht, wie die sozioökonomische Situation und die Krebserkrankungsrate einer Region zusammenhängen. Was haben Sie herausgefunden?
Die Neuerkrankungsraten sinken zwar bundesweit, aber mit deutlichen Unterschieden zwischen den Regionen. Wir haben gesehen, dass die Neuerkrankungsraten in sogenannten deprivierten Regionen weniger stark zurückgegangen sind. Damit meinen wir Gegenden, in denen die Voraussetzungen für ein gesundes Leben bedingt durch einen Mangel an materiellen und sozialen Ressourcen schlechter sind. Der Unterschied zeigt sich bei der Gesamtzahl der Neuerkrankungen, aber insbesondere auch bei Darmkrebsdiagnosen und bei Lungenkrebs bei Männern. Unterm Strich ist der soziale Gradient noch größer geworden, das heißt, dass der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Situation und Krebsrisiko sogar noch stieg: Lag die Krebsneuerkrankungsrate bei Männern 2007 in den am stärksten deprivierten Regionen bereits um 7 Prozent höher als in den am wenigsten benachteiligten Gebieten, klaffte ihr Krebsrisiko bei den jüngsten analysierten Daten aus 2018 bereits um 23 Prozent auseinander. Bei den Frauen stieg der Unterschied im gleichen Zeitraum von 7 auf 20 Prozent.
Wovon hängt es ab, wie sozioökonomisch stark oder schwach Sie eine Region bewerten?
Wir haben alle Landkreise und kreisfreien Städte im Untersuchungsgebiet einer von fünf Stufen zugeordnet, die angeben, wie stark benachteiligt eine Region ist. Um diese Zuordnung treffen zu können, haben wir einen Index genutzt, der von meinem Kollegen Werner Maier in München für Deutschland entwickelt und bereits in vielen Studien verwendet wurde. In den Index fließen ganz unterschiedliche Informationen eine Region ein, etwa zur finanziellen Situation der Region, der Sicherheitslage vor Ort oder der Bildungs- und Beschäftigungssituation.
Und woher wissen Sie, wie zum Beispiel die Sicherheitslage in einer betrachteten Region einzuschätzen ist?
Wir greifen auf öffentlich verfügbare Statistiken zurück, die für alle Kreise und kreisfreien Städte vorliegen. So können andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unser Vorgehen nachvollziehen und im Zweifel auch nachrechnen. Um die Sicherheitsdeprivation zu beurteilen, werten wir etwa Daten zu Straftaten und Verkehrsunfällen aus. Über die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen und die Differenz zwischen Zuzügen in eine Region und Wegzügen messen wir den Mangel an sozialen Ressourcen, also mangelnde Teilhabe und die Attraktivität einer Region. Außerdem fließen Statistiken über das Pro-Kopf-Einkommen, die Arbeitslosenzahlen, den Anteil der Beschäftigten ohne Ausbildung, die kommunalen Steuereinnahmen pro Kopf und den Anteil an Verkehrs-, Industrie- und Gewerbeflächen mit unterschiedlichen Gewichtungen in den Index ein.
Keiner dieser Faktoren macht unmittelbar krank. Wie könnte sich daraus ein erhöhtes Krebsrisiko in bestimmten Regionen ergeben?
Wie stark eine Region depriviert ist, gibt auch einen Hinweis darauf, wie gesund der Lebensraum dort ist. Es mag erstaunen, dass offenbar die generelle Infrastruktur und die medizinische Versorgung, beispielsweise die Ärztedichte, kaum mit dem Krebsrisiko zusammenhängt. Stattdessen spielen soziale, individuelle Faktoren eine wichtige Rolle, etwa die Arbeitslosenquote oder der Anteil an Sozialhilfeempfängern und Schulabbrechern. Damit einher gehen allerdings lebensstilbedingte Krebsrisikofaktoren. Dazu gehören etwa Tabak- und Alkoholkonsum, Übergewicht, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung. Wenn Kommunen hohe Steuereinnahmen haben, können sie Fahrradwege und Grünanlagen bauen. Gut ausgestattete Schulen können Präventionsprogramme anbieten und Menschen, die in weniger deprivierten Regionen leben, wissen oft mehr darüber, was gesundes Leben ausmacht. Wo es viele soziale Ressourcen gibt, finden sich mehr gesundheitsbegünstigende Strukturen wie zum Beispiel Sportvereine, die Bewegungsangebote machen. Andersherum äußert sich der Mangel an gesunden Lebensbedingungen in Regionen mit hoher Deprivation zum Beispiel dadurch, dass der Konsum von Alkohol und Tabakwaren gesellschaftlich akzeptierter ist oder eine ungesunde Ernährung durch entsprechende Fast-Food-Angebote begünstigt wird. Es gibt viele denkbare Zusammenhänge.
Geht es also letztlich in erster Linie darum, wie viel Geld eine Kommune ist Stadtplanung investieren kann?
Nicht unmittelbar. Wir haben zwar festgestellt, dass das Pro-Kopf-Einkommen eine relevante Größe ist, die kommunalen Einkommen scheinen hingegen keinen großen Einfluss zu haben. Stattdessen spielen andere Faktoren eine Rolle: Dort, wo viel Arbeitslosigkeit und schlechte Umweltbedingungen herrschen und es wenige soziale Angebote gibt, ist die Zahl der Krebsneuerkrankungen häufig höher beziehungsweise weniger deutlich gesunken. Bei Lungenkrebs von Frauen, dessen Neuerkrankungsraten leider gegen den Trend insgesamt steigen, hat sich außerdem der fehlende Schulabschluss als relevanter Faktor gezeigt.
Welche Folgerungen lassen sich politisch und gesellschaftlich daraus ziehen?
Darüber haben wir lange diskutiert. Am deutlichsten wird aus der Studie, dass Maßnahmen, die auf die Reduzierung von Neuerkrankungen zielen, nicht alle Menschen gleichermaßen erreichen. Wir brauchen also regional angepasste Public-Health-Maßnahmen. Diese sollten so über die Gesundheitsrisiken des Rauchens, von Alkohol, Übergewicht, falscher Ernährung und mangelnder Bewegung aufklären, dass sie auch bei den Menschen ankommen, die in Regionen leben, in denen die Ressourcen für ein gesundes Leben knapper sind als anderswo.
Wie könnten solche Maßnahmen aussehen?
Denkbar wären zum Beispiel standardisierte Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, zu denen man, wie in anderen Ländern durchaus üblich, persönlich eingeladen und regelmäßig daran erinnert wird. Niederschwellige und auch mobile Angebote in Wohnortnähe könnten positiv wirken genauso wie die stärkere Einbeziehung von Hausärztinnen und Hausärzten bei Empfehlungen zum gesunden Lebensstil. Finanzielle Anreize wären ein weiterer denkbarer Ansatz.
Das klingt nach einem großen Aufwand.
Bei uns Ökonomen steht häufig die Effizienz im Mittelpunkt, das heißt die Frage, wo ein zusätzlicher Euro am meisten Nutzen bringt. Das muss kein Widerspruch zu Gerechtigkeitsüberlegungen sein. Dort, wo ein Defizit heute am größten ist, kann ein investierter Euro häufig mehr erreichen als in Regionen, in denen die Bedingungen für ein gesundes Leben bereits gut sind. Generell bin ich allerdings davon überzeugt, dass die Schaffung gleicher Voraussetzungen für ein gesundes Leben langfristig allen nutzt und unser Ziel sein sollte. Derzeit arbeiten wir zusammen mit Werner Maier an einer Aktualisierung des GIMD und werden das Instrument auch in Zukunft von Oldenburg aus zur Analyse sozioökonomischer Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung nutzen.
Interview: Sonja Niemann