Medizinstudierende können seit Kurzem eine ungewöhnliche Lehrveranstaltung wählen: Im „Escape Room Neurologie“ müssen sie ihr Wissen einsetzen, um knifflige Rätsel zu lösen und einen Hackerangriff zu verhindern. Gestört werden sie dabei immer wieder von einem seltsamen Assistenten – und sie haben nur 90 Minuten.
Gebannt starren der Medizindidaktiker Thomas Schmidt und die Neurologin Dr. Wiebke Grashorn auf die Videoübertragung, die das Geschehen im Nebenraum zeigt. Er ist einem Sprechzimmer nachempfunden und gehört zum Klinischen Trainingszentrum der Universität. Normalerweise untersuchen Medizinstudierende dort Simulationspatientinnen und -patienten. Heute aber wühlt dort eine Medizinstudentin im Schrank, eine andere inspiziert ein Zahlenschloss und eine dritte brütet über einem Kreuzworträtsel, als plötzlich ein Mann mit Kittel den Raum stürmt. Er wirkt verwirrt, macht den Wasserhahn an, nimmt einen weiteren Kittel vom Haken an der Wand und lässt ihn auf den Boden fallen. Unter den irritierten Blicken der drei Studentinnen verlässt er wieder den Raum.
Die drei angehenden Medizinerinnen Aparajita Weimer, Luise Roth und Katharina Meier erleben gerade die vielleicht ungewöhnlichste Lehrveranstaltung ihres Studiums: den „Escape Room Neurologie“. Konzipiert hat das Lernabenteuer ein Team um Thomas Schmidt. „Wir wollten einen spielerischen Lernansatz für die Medizin schaffen“, erklärt er. Vorbild waren die Escape Rooms, die seit einigen Jahren in den meisten größeren Städten Spielbegeisterte mit der Herausforderung locken, in einen Raum eingeschlossen zu werden und dort in 60 Minuten Rätsel und Puzzle zu meistern, die zum jeweiligen Spielziel führen. Jeder Raum erzählt eine eigene Geschichte, zum Beispiel müssen Eingeschlossene aus einem Gefängnis flüchten oder Kraftwerksbesucher eine drohende Kernschmelze verhindern.
Studierende schlüpfen in eine Rolle
Aparajita, Luise und Katharina hingegen sind in die Rollen neuer Mitarbeiterinnen des fiktiven Neurologischen Forschungsinstituts Oldenburg geschlüpft und haben eineinhalb Stunden Zeit, um einen versteckten Tresor zu finden und zu öffnen. Von „Herrn Bartholomé“, dem Assistenten des Institutsleiters, haben sie erfahren, dass sich nur mit den Informationen aus dem Tresor ein Hackerangriff auf das Institut abwenden lässt.
Bis die drei Studentinnen den Code für den Tresor herausfinden, müssen sie zahlreiche Rätsel lösen: Im Büro des Institutsleiters Dr. Frank N. Stein, über dessen kürzliches Ableben Herr Bartholomé sie informiert hat, finden sie zahlreiche Hinweise: Krankenakten, verdächtige Medikamente, einen passwortgeschützten Laptop, Fachzeitschriften und sogar ein vom Rätselfan Dr. Stein höchstselbst gestaltetes und in einer Fachzeitschrift veröffentlichtes Kreuzworträtsel. Durchschnittliche Escape-Room-Fans hätten in diesem medizinischen Abenteuer kaum eine Chance. Aparajita, Luise und Katharina aber wenden ihr im Studium erlerntes Wissen über Neurologie an, setzen Fachbegriffe korrekt in Kreuzworträtsel ein, stellen richtige Verdachtsdiagnosen, kombinieren medizinische Befunde und Hirnscans mit den richtigen Medikamenten und lösen ein Rätsel nach dem anderen.
Den Überlegungen der drei Studentinnen lauscht über die im Escape Room angebrachten Mikrofone Wiebke Grashorn. Die Ärztin notiert falsche Gedanken, aber auch gute Ideen, um im Anschluss mit den Frauen über ihren Wissensstand zu sprechen. Schließlich geht es beim Escape Room –
bei allem Spaß, den die Studentinnen dabei sichtlich haben – darum, dass sie dazulernen und eigene Wissenslücken erkennen. Außerdem kann die Expertin mit Tipps und Hinweisen per Mikrofon ins Spielgeschehen eingreifen, wenn die Spielerinnen doch einmal auf dem Schlauch stehen. Aparajita, Luise und Katharina brauchen nur wenige Tipps, aber trotzdem geraten sie in Unruhe. Schließlich tickt die Uhr.
Gefördert durch „Innovation plus“
„Ärztinnen und Ärzte müssen in der Lage sein, auch in Stresssituationen ihr Wissen zuverlässig abzurufen. In Vorbereitung darauf schafft der Escape Room einen sicheren Raum, in dem Studierende genau das trainieren können – in dem sie aber auch Fehler machen dürfen, ohne dass sie ernste Konsequenzen befürchten müssen“, sagt Schmidt.
Für Stress sorgt auch Ulf Goerges. Normalerweise schult und koordiniert der ausgebildete Schauspieler die Simulationspatientinnen und -patienten, mit denen Medizinstudierende auch die ärztliche Kommunikation trainieren. Heute ist er selbst in die Rolle von Herrn Bartholomé geschlüpft und lenkt die Studentinnen als wirrer Institutsassistent immer wieder von den Rätseln ab. Er gehörte ebenso zum Entwicklungsteam wie die ehemalige Medizinstudentin Barbara Filser, die einen Großteil der Rätsel ersonnen hat, und Lehramtsstudent Etienne Légat. Er brachte reichlich Erfahrung als Mitarbeiter eines Escape Rooms mit und entwickelte für seine Bachelorarbeit sogar selbst ein Outdoor Escape Game für Oldenburg. Neben Grashorn brachte der Neurologe Dr. Fabian Fincke die ärztliche Perspektive ein. Abwechselnd begleiten sie jetzt die Durchläufe.
Gefördert wurde das Lehrkonzept mit Mitteln aus dem Programm „Innovation plus“ des niedersächsischen Wissenschaftsministeriums bereits 2019. Kurz vor Fertigstellung des Escape Rooms verhinderten jedoch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Raumnutzungsregeln eine Durchführung.
Inzwischen aber hat das ungewöhnliche Seminar einen festen Platz im Lehrangebot – und die Resonanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist durchweg positiv. „Mich hat überrascht, dass wir uns trotz des Zeitdrucks tatsächlich noch gegenseitig Sachen erklärt haben“, resümiert Luise Roth im Anschluss. So weit weg vom Stationsalltag wie vermutet sei der Rätselraum mit den anfangs vielen offenen Fragen außerdem gar nicht. „Auch in der Klinik hat man es ja oft mit vielen losen Fäden zu tun, die man erst einmal zusammenbringen muss“, so Luisa. Sie beschreibt damit weitere Lernziele, die das Entwicklungsteam bei der Konzeption des Raums vor Augen hatte: Kommunikationsfähigkeit, Problemlösefähigkeiten und das kritische Denken zu fördern.
Wie groß der Lerneffekt des Escape Rooms ist, ermitteln die Verantwortlichen mit Multiple Choice Tests vor und nach dem Abenteuer. Ihre Untersuchungen dazu wollen sie anschließend veröffentlichen. Noch wichtiger als die begleitende Forschung ist für Ärztin Wiebke Grashorn aber, dass die Teilnehmenden erleben, wie es ist, ihr Wissen unter Stress abrufen zu müssen. „Es gibt Basics, die muss man einfach in jeder Situation parat haben. Wenn man zum Beispiel eine bakterielle Meningitis nicht rechtzeitig erkennt, kann ein Mensch sterben.“