Dr. Daniel Kristanto will wissen, was im Gehirn passiert – und zwar in jedem einzelnen. Die Universität fördert sein „Individual Brain Project“ jetzt für bis zu drei Jahre mit dem Carl von Ossietzky Young Researchers‘ Fellowship.
Wasserhahn, Auto, Gehirn – mit diesen auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Begriffen lässt sich sie die wissenschaftliche Karriere von Dr. Daniel Kristanto grob umreißen. „Ich habe mich schon immer für Systeme interessiert und will verstehen, wie sie funktionieren“, sagt der 31-jährige Physikingenieur. In seiner Bachelorarbeit an der Universitas Gadjah Mada (Indonesien) hat er sich mit industrieller Messtechnik beschäftigt, die Flüssigkeitsströme überwacht. „Ganz vereinfacht könnte man sagen, so etwas funktioniert ähnlich wie ein Wasserhahn in der Küche“, erklärt er. In der Masterarbeit an der Thammasat University (Thailand) ging es um die Steuerung von Klimasystemen in Autos, erzählt er und macht eine ausladende Handbewegung in Richtung Fenster, durch das man den Autoverkehr an der Ammerländer Heerstraße hört. Seine Doktorarbeit führte ihn anschließend an die Hong Kong Baptist University. Dort forscht eine Arbeitsgruppe zu neuronaler Informationsverarbeitung unter anderem im menschlichen Gehirn.
2022 kam Kristanto für ein sechsmonatiges Joint Fellowship des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst gemeinsam mit der Fakultät VI – Medizin und Gesundheitswissenschaften nach Deutschland. Bis zu seiner aktuellen Förderung war er Mitarbeiter am Department für Psychologie in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Andrea Hildebrandt, einer Forschungskollegin seines Hongkonger Doktorvaters. Von Hongkong nach Oldenburg ist Kristantos vor drei Jahren nicht allein gekommen: Er lebt hier gemeinsam mit seiner Frau und der inzwischen viereinhalbjährigen Tochter. „Wir lieben Oldenburg und können uns gut vorstellen, auch in Zukunft hier zu leben“, sagt Kristanto.
Besser zu verstehen und auch bildlich darstellen zu können, was im menschlichen Gehirn – dem wohl komplexesten aller Systeme – passiert, steht im Mittelpunkt von Kristantos wissenschaftlichem Interesse. Mit dem „Individual Brain Project“ will er Methoden entwickeln, mit denen sich moderne Individualitätsansätze in der Hirnforschung optimieren lassen. In der Vergangenheit verfolgte die Hirnforschung eher einen quantitativen Ansatz: In Hirnscans von vielen Personen suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach übereinstimmenden Mustern, die darauf hinweisen, dass bestimmte Aktivitätsmuster im Gehirn zum Beispiel von einem Sinnesreiz ausgelöst sein könnten, dem alle Testpersonen zuvor ausgesetzt worden waren. „Auf ein einzelnes Gehirn lassen sich diese Gruppenergebnisse aber meist nicht zurückübertragen, unter anderem aufgrund mangelnder Replizierbarkeit“, erklärt Kristanto. Was für die Gruppe der untersuchten Personen stimmt, gilt also oft genug nicht für einzelne Mitglieder.
Gruppen statt Individuen zu betrachten, führt in Kristantos Augen zu Verallgemeinerungen, die zwar bei diesem Ansatz notwendig sind, aber neuen Erkenntnissen auch im Weg stehen können. „Jedes Gehirn ist einzigartig. Wenn man bei seiner Untersuchungen Maßstäbe anlegt, die für ein durchschnittliches Gehirn gelten, ist das nur bedingt aussagekräftig“, meint er. In den kommenden Jahren will er daher die Grundlagen für die Methodenentwicklung schaffen, mit denen sich anhand von MRT-Aufnahmen individuelle Hirnmodelle – einzigartig wie ein Fingerabdruck – erstellen lassen, die für die Forschung und Diagnostik nutzbar sind.
Starten will der Physikingenieur mit einer systematischen Aufarbeitung des aktuellen wissenschaftlichen Standards beim Thema Hirnscans. „Ich möchte einen öffentlich zugänglichen Wissensspeicher etablieren, der nicht nur Forschungsergebnisse und -methoden beinhaltet, sondern auch einen Schwerpunkt auf die Zusammenhänge zwischen Ergebnissen und Methoden legt“, sagt Kristanto. Dieser soll auch anderen Forschenden zur Verfügung stehen. Er selbst will auf dieser Basis neue Methoden entwickeln.
Unter anderem setzt er dabei auf die Kombination von Hirnscans, die zwar mit unterschiedlicher Zielsetzung von ein und demselben Gehirn erstellt worden sind, aber gemeinsam ein umfassenderes Bild des Hirns liefern könnten – von den strukturellen Besonderheiten wie der Dicke der Hirnrinde bis zu bildlichen Darstellungen der Hirnfunktionen. Individuelle Hirnmerkmale entdecken will er, indem er Gemeinsamkeiten von Personen, wie etwa ihr Alter, in Verbindung bringt mit ihren individuellen Hirnfunktionen. „Vereinfacht ausgedrückt liegt dem ein ähnlicher Gedanke zugrunde wie den individuellen Filmempfehlungen von Streamingdienstleistern. Sie bringen vergleichbare Daten wie etwa das Alter in Verbindung mit ganz persönlichen Sehgewohnheiten. So entstehen Nutzerprofile, für die sich personalisierte Filmempfehlungen aussprechen lassen“, erklärt Kristanto. Auf ähnliche Weise will er vergleichbare Daten etwa zur Demographie nutzen, um Gemeinsamkeiten auch in den dazugehörigen Hirnscans zu vergleichen. Auf die Suche danach machen sollen sich leistungsstarke KI-Tools.
Das Carl von Ossietzky Young Researchers’ Fellowship der Universität soll Forschenden die Möglichkeit geben, ihre eigene Forschung zu vertiefen und gleichzeitig ausreichend Zeit zu haben, in Ruhe einen Drittmittelantrag zu stellen. „Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar“, sagt Kristantos hat einen besonders ehrgeizigen Zeitplan: Er will schon in diesem Jahr einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für eine Förderung im Emmy Noether-Programm stellen.
Zu tun ist im „Individual Brain Projekt“ genug. Kristanto hat das feste Ziel, seine Arbeitsergebnisse in die Welt zu bringen. „Am Ende sollen bekannte und neue Methoden auch für andere nutzbar sein, selbst wenn ihnen die einschlägige Vorerfahrung vielleicht fehlt. Ich möchte die Verfahren daher in eine Art modularen Werkzeugkoffer packen, aus dem sich andere Forschende entsprechend ihres Bedarfs bedienen können“, sagt der Physikingenieur. Irgendwann, so hofft er, trägt seine Arbeit dann dazu bei, dass Menschen auf Basis von Hirnscans eine personalisierte Diagnose und eine auf ihr Krankheitsbild angepasste Therapie erhalten.