Forschungsexperiment oder klassisches Konzert? Die „Golden Ear Challenge“ ist beides. Sie bringt die Hörforschung der Uni Oldenburg in den Konzertsaal und generiert gleichzeitig spannende Daten für die Wissenschaft.
Die vier Musikerinnen und Musiker des Streichquartetts auf der Bühne der Exerzierhalle blicken sich kurz in die Augen, dann setzen sie ihre Bögen an und beginnen zu spielen. Die Klänge aus Beethovens drittem Streichquartett fliegen dem Publikum entgegen – und verstummen nach wenigen Sekunden so plötzlich wie sie begonnen haben. Ein Raunen geht durch die Reihen, fast 100 Smartphone-Displays leuchten nahezu gleichzeitig auf und und während auf der Leinwand hinter dem Quartett eine Zeitleiste unerbittlich abläuft, stellen sich alle Gäste die gleiche Frage: Welches der vier Instrumente hat falsch gespielt? Ihre Vermutung geben die Zuhörerinnen und Zuhörer in das Online-Umfragetool ein, in das sie sich vor Beginn der Veranstaltung eingeloggt haben. Heute sind sie nicht nur Konzertgäste, sondern auch Teil eines Experiments.
Versuchsleiter ist Kai Siedenburg, seit Kurzem Professor an der TU Graz, aber nach wie vor Leiter der Forschungsgruppe Musikwahrnehmung und -verarbeitung an der Uni Oldenburg. „Normalerweise machen wir unsere Versuche im Labor und setzen unsere Probandinnen und Probanden für ein bis zwei Stunden in eine isolierte Schallkabine“, erklärt Siedenburg den Teilnehmenden des Konzertexperiments. „Wir haben uns aber gefragt, ob wir das nicht auch live und mit einem echten Konzertpublikum machen können.“
Um das Live-Experiment auszuprobieren, sind die Forschenden gerade mit dem Streichquartett des „Orchesters im Treppenhaus“ aus Hannover auf „Forschungstournee“, gefördert von der VolkswagenStiftung. Nach Veranstaltungen in Bremen und Hannover war Oldenburg Ende November der vorletzte Halt der „Golden Ear Challenge“, bei der das feinste Gehör des Abends gesucht wird. Am 7. März haben Interessierte das letzte Mal die Chance, selbst mitzuraten. Dann lädt das Team in die Hamburger Elbphilharmonie ein.
Hörschäden sind für Musikerinnen und Musiker ein wichtiges Thema
An einer Veranstaltungsreihe mitzuwirken, bei der sie absichtlich falsch spielen sollen, kratzt nicht am Berufsethos der Berufsmusikerinnen und -musiker. Im Gegenteil: „Das Ziel, dass man Menschen, die unter Schwerhörigkeit leiden, vielleicht Hörhilfen ermöglicht, die auch einen schöneren Musikgenuss mit sich bringen, ist total wichtig“, sagt Violinistin Johanna Ruppert. Außerdem würden gerade Musiker*innen oft selbst im Alter als Folge der ständigen akustischen Belastung an Schwerhörigkeit leiden. „Es ist also auch unser eigenes Interesse, dass die Hörgesundheit in den Fokus gerückt wird.“
Die Fehler, die das Quartett in Abstimmung mit den Forschenden in die kurzen Hörproben eingebaut hat, stellen das Publikum nicht nur in Oldenburg vor Herausforderungen. „War da überhaupt ein Fehler?“, ruft eine Zuschauerin nach einer der kurzen Sequenzen in den Raum und bekommt zustimmendes Lachen.
An diesem Abend wird es niemandem gelingen, in allen sechs Beethoven-Ausschnitten der ersten Runde zu erkennen, ob Violinist Moritz Ter-Nedden, Violinistin Johanna Ruppert, Bratschistin Erin Kirby oder Cellist Michael Schmitz falsch spielt. Zu sehr vereinen sich die Klänge der Streichinstrumente zu einem Gesamtprodukt. Genau darum geht es Siedenburg und seinem Team bei diesem Experiment: Anhand des Antwortverhaltens der Konzertgäste wollen sie etwas darüber herausfinden, welche Faktoren einen Einfluss darauf haben, wie Menschen einzelne Klänge aus Mixturen heraushören. „Wie wir hören, hängt zum Beispiel von neurobiologischen Faktoren ab, aber auch die Anatomie des Ohrs beeinflusst, wie Schall verarbeitet wird“, erklärt Musikwissenschaftlerin Dr. Iris Mencke. „In welchem Kulturkreis und mit welcher Musik wir aufgewachsen sind, spielt ebenso eine Rolle wie die Hörgesundheit.“
Auch praktische musikalische Vorerfahrungen, etwa das regelmäßige Spielen eines Instruments, könnten eine Rolle dafür spielen, wie gut jemand feine Nuancen in der Musik unterscheiden kann. Deshalb machen alle Teilnehmenden auch zu ihren Vorerfahrungen und einigen statistischen Eckdaten Angaben im Online-Umfragetool.
Geschicktes Spiel verschleiert Fehler
Nach der Beethoven-Runde folgen Fehler in Maurice Ravels Streichquartett Nr. 2 und Robert Schumanns Streichquartett Nr. 3. Sobald die Ratezeit nach den Hörbeispielen abgelaufen ist, sehen die Gäste sofort auf der Leinwand hinter der Bühne, wie das Publikum getippt hat – und welche Antwort die richtige ist. Den Musikerinnen und Musikern scheint es eine besondere Freude zu bereiten, Fehler elegant zu verschleiern, um nicht enttarnt zu werden. Besonders der ersten Geige Ter-Nedden gelingt es immer wieder, mit seinen Fehlern unbemerkt davonzukommen. „Er spielt die Fehler eben besonders schön“, kommentiert Moderatorin Anna Kussmaul trocken. Zwischendurch dürfen sich die Gäste aber immer wieder auch zurücklehnen und nur zuhören. Dann spielt das Quartett längere Ausschnitte aus den Stücken – und zwar fehlerfrei.
Die beiden Teilnehmenden, die am Ende der drei Runden am meisten Fehler in der kürzesten Zeit erkannt haben, ziehen ins Finale ein. Dort wartet eine besondere Aufgabe auf sie, für die ein Dummy-Kopf, der vor der Bühne steht, eine wichtige Rolle spielt. Er fängt die Klänge des Orchesters mit seinen künstlichen Ohren auf und überzieht sie mit einem Filter, um sie den fünf Finalisten und der Finalistin so vorzuspielen, wie ein Mensch mit Höreinschränkungen sie hören würde. In dieser Runde tragen die Finalteilnehmenden daher Kopfhörer und müssen besonders genau hinhören. Leicht fällt die Aufgabe keinem. Bei einem Ausschnitt aus dem vierten Streichquartett von Grażyna Bacewicz gelingt es Bratschistin Kirby sogar, alle zu täuschen. Niemand bemerkt, dass sie den Fehler gespielt hat.
Dann wird es spannend: Der Sieger des Golden-Ear-Awards steht fest. Die Auszeichnung für das feinste Gehör nimmt an diesem Abend Dr. Daniel Berg mit nach Hause. Seine Tätigkeit im Hörforschungs-Exzellenzcluster Hearing4all dürfte dafür höchstens eine mittelbare Rolle gespielt haben. Dort ist er für das Forschungsdatenmanagement zuständig. „Ich habe aber einen kleinen Vorteil: Ich singe in einem A-cappella-Quintett – und die Stimmen mischen sich da ähnlich gut wie hier die Streicher. Aber ich muss ehrlich sagen: Bei Beethoven hatte ich keine Chance.“